Sonntag, 1. Mai 2005

pidgin.

irgendwann hatten wir uns dann aufgerappelt, der mann und ich, nachdem wir so um die 20 stunden größtenteils in der horizontalen verbracht hatten(inklusive schlaf, wohlgemerkt), das reicht doch fürs erste, her mit einem call-a-bike für die dame, raus an die luft, ans wasser, den frühling geniessen, in die sonne gucken, normalität mogeln. schön wars.
der rückweg faul mit s- und u-bahn, zu dumm, ein samstag, eingleisiger verkehr auf zentralen linien der hauptstadt, und fussballfans noch dazu. aber mit liebe imprägniert, da hält man das alles aus. locker.

unter dem potsdamer platz die räder geschleppt und über rolltreppen gehievt, da sassen wir endlich in einem richtigen zug, warteten auf die abfahrt, und die fussballfans, alkoholisiert, unzivilisiert, peinlich, spontan unerklärliche dinge in den zug gröhlend, nahmen überzahl an. unangenehm.

es entsponn sich zwischen dem mann und mir die übliche unterhaltung. über verpasste bildungschancen und schlechte erziehung. wir blieben dort hängen, bei der schlechten erziehung, bei nachlässigen eltern, bei fehlendem willen, kinder zu erziehen, sie nicht nur nebenher laufen zu lassen, und es war eine erhellende unterhaltung (schön, so mit unterschiedlichen erlebnishintergründen) voller einigkeit.
alles wunderbar.

schliesslich erreichten wir unsere zielhaltestelle.
"das ist die haltestelle mit dem langsamsten aufzug berlins" informierte mich der mann, als wir mit den rädern auf den aufzug zusteuerten. ein call-a-bike über treppen schleppen, nein, das ist kein spass.

der aufzug kommt, wir schieben sie rein, die räder, und uns dazu. mit uns tritt eine junge frau ein.

sie ist so gerade eben 20. sie ist mitteleuropäerin. ihre haare sind zu afro-zöpfen geflochten, sie trägt ein amerikanischen team-shirt, übergross, um den kopf ein weisses tuch gebunden, kopfhörer mit lautem gangsta hiphop in den ohren.

sie hat zwei kinder dabei, ihre kinder.
in der kinderkarre sitzt ein kleinkind, höchstens ein jahr alt, afrikanisch-europäisch.
an ihrer hand steht ein ernstdreinschauender kleiner junge, vielleicht vier oder fünf.
er ist nicht afrikanisch-europäisch, aber man sieht, auch sein vater stammt aus einem anderen genpool als seine mutter.

der aufzug setzt sich langsam in bewegung. und ja, er ist langsam. schweigen im aufzug, wie das so ist bei ungewollter intimität mit fremden menschen. dem leichten wupp-wupp des aufzugs ist nur der schlechte gangsta hiphop aus den kopfhörern der frau zu hören. ich sage etwas zum mann über den aufzug, etwas belangloses, unsere laune ist gut, wir lächeln, sind glücklich, wir sind wild aufeinander, schon die ganze zeit, gleich endlich zu hause, vorher noch schnell "lost highway" ausleihen. samstag abend. normalität fuscheln halt, wir sind glücklich, der tag ist schön. raus hier, raus, auf nach hause, raus aus den klamotten.

urplötzlich, unvermittelt, grundlos, aber schreit sie, die frau.

"why you ain't listenin' to me? you ain't listenin' to me. why?" bellt, nein, gröhlt, sie das kleinkind an ihrer hand an, in übelstem pidgin englisch, reisst am arm des kindes.
man hört von wem sie es gelernt hat, dieses englisch.

ich zucke zusammen. der mann und ich, wir schauen uns an, erschrocken, angeekelt, unverständig. dann schaue ich mich zu ihr um, zu ihr und dem kind.
es ist eng, sie steht vielleicht einen halben meter von mir entfernt.

der kleine junge ist paralyisiert, sagt dann, brav, wohl artikuliert, ruhig, verschüchtert, in akzentfreiem deutsch. "nein, ich bin brav, ich höre dir zu." mehrfach. "nein, ich bin brav." immer wieder.

aber sie, die frau, seine mutter, sie bellt, gröhlt in weiter an, über den gangsta rap in ihren ohren hinweg, mit unglaublichen dingen, in übelstem pidgin englisch, das so falsch ist, so gewollt, so unglaublich schrecklich an dieser weissen, hoffnungslosen unterschichtfrau mit ihrem aufgesetzten outfit, gehabe, mit allem.
sie macht immer wieder pausen, nur um unvermittelt wieder loszubrüllen, ohne kontext, ohne erklärung, ihr sohn hat keine chance zu verstehen worum es geht.

und er ist so langsam, so langsam, so langsam, dieser aufzug.

ich kann nicht mehr atmen in diesem engen raum, neben dieser frau. ich will dieses kind in den arm nehmen, irgendwas wieder gut machen, ich will sie fragen was los ist, was das soll, warum sie nicht normal redet mit ihrem kind, warum sie musik hört, warum sie so schreit, warum sie nicht deutsch redet mit dem kind, warum es so aussieht als hasse sie es, ihr kind, ich will, dass dieser goldige kleine junge nett behandelt wird, er macht so einen aufmerksamen, intelligenten eindruck. mein herz schmerzt, ich bin erschrocken und habe tränen in den augen.

endlich, endlich, endlich, der aufzug ist fast unten, die letzten centimeter noch unendlich langsamer als der aufzug ohnehin schon, aber dann sind sie auf die türen, und sie prescht raus, die frau, mit der kinderkarre voran, den kleinen hinterherziehend, und ich muss raus aus dem bahnhof, schnell an die luft, atmen, atmen, atmen und stehenbleiben einen moment, weil ich kotzen will, ganz dringend, das aber unbedingt vermeiden will, weil ich wenige sachen so sehr hasse wie kotzen.

der mann und ich, wir schauen uns an, und reden los und sind uns einig: diese real life lektion im rechthaben war ein wenig arg, so direkt nach unserer unterhaltung über elternschaft.

ich brauche lange um mich von dieser begegnung zu erholen. ich bin sowieso angeschlagen, emotional, an dem abend wieder und wieder reden wir über sie, an diesem tag. am nächsten auch noch. und auch jetzt in diesem moment kann ich ihr kind vor mir sehen.
und habe mitleid. mit beiden.

[sie erinnerte mich an die frauen aus liebe schwarz/weiss, diesem schlauen, intelligenten schrecklichen, kaum zu ertragenden film.]